Zeitreise: Wo Nordhorns alte Textilmaschinen noch immer rattern

Sie gibt eine beachtliche Lautstärke ab, die wuchtige Jacquardmaschine, als Techniker Rudi Veenemann den mehr als 50 Jahre alten Apparat in Gang setzt. Die Funktionsweise ist auch heute noch faszinierend: Per Lochkartensteuerung werden Hebel und Haken bewegt und dadurch automatisch komplexe Muster auf dem Webstuhl erzeugt. Anhand Gerätschaften wie dieser können in der Nordhorner Museumsfabrik im rückwärtigen Teil der Alten Weberei den Prozess von der Baumwolle zum fertigen Textilerzeugnis erleben. Immer samstags zwischen 14 und 18 Uhr geben die Techniker – größtenteils ehemalige Textilwerker – anschauliche Einblicke in jene Arbeit, wie sie Nordhorns wirtschaftlicher Vergangenheit in den Fabriken NINO, Rawe und Povel alltäglich war.

Das Team der Techniker, zu dem neben Rudi Veenemann weiterhin Gerhard Kock, Adolf Beckmann, André Schweer und Ralf Schrap gehören, arbeitet ehrenamtlich – so wie alle Mitwirkenden in den unterschiedlichen Abteilungen und Gruppen des Grafschafter Museumsvereins, der seit 1994 im Auftrag der Stadt Nordhorn das Stadtmuseum betreibt. Einst allein im Povelturm angesiedelt, verfügt das Museum heute mit der 1999 eröffneten Museumsfabrik sowie den 2011 bezogenen Räumlichkeiten im ersten Stock des NINO-Hochbaus über drei Standorte. Doch ganz gleich ob Fotogruppe oder Forschungsabteilung: Alle Vereinsmitglieder eint das Bestreben, die Erinnerung an Nordhorns Textilära wachzuhalten und auch jungen Leuten dieses Wissen zu vermitteln.

Zurück in der Museumsfabrik: Mit den Technikern stehen echte Zeitzeugen als Ansprechpartner zur Verfügung. Gerhard Kock hat bei NINO „von der Pike auf“ alle Abteilungen durchlaufen, war mehr als drei Jahrzehnte lang für den einstigen Textilriesen tätig und verantwortete zuletzt als Betriebsleiter die Arbeit im Spinnerei-Hochbau. Der Nordhorner, Jahrgang 1939, war auch derjenige, der nach dem Konkurs und dem Ende der Produktion 1996 „die Tür zugemacht“ hat. Den Aufbau der Museumsfabrik hat er praktisch ab der ersten Stunde aktiv begleitet. Nicht alle konnten sich damals dafür begeistern, erinnert er sich: „Viele wollten mit dem Thema Textilindustrie erst einmal nichts mehr zu tun haben.“ So ging es zunächst auch Rudi Veenemann, der bei Rawe als Weber und zuletzt ebenfalls in führender Position gearbeitet hat. Noch gut erinnert er sich an das Aus des Unternehmens kurz nach der Jahrtausendwende: „Drei Monate lang haben wir die Firma ausgeräumt. Das war für mich das Schlimmste in den 35 Jahren bei Rawe“, berichtet der heute 75-Jährige. Da erscheint es nur allzu verständlich, dass der langjährige Textilwerker erst einmal Abstand benötigte. Inzwischen ist er aber längst mit Feuereifer dabei: Ebenso wie Gerhard Kock und die weiteren Techniker freut er sich stets, wenn die Besucher Interesse zeigen und Fragen stellen. Die Geschichte des Museumsvereins als Träger reicht bereits in das Jahr 1989 zurück, wie der Vereinsvorsitzende Dr. Werner Rohr und die Beiratsvorsitzende Jutta Bonge berichten. „Die Debatte um ein Kreismuseum kochte seinerzeit hoch“, erzählt Rohr. „Verbunden damit war auch die Frage nach dem Standort: In der Burg Bentheim, im früheren landrätlichen Hilfsamt in Neuenhaus oder im Gebäude der Alten Weberei in Nordhorn?“ Letztlich sei es dann zur „kleinen Lösung“ eines Stadtmuseums für Nordhorn gekommen: „Wir hatten damals nichts“, beschreibt Werner Rohr die Anfangszeit.

Auch die Zahl der Gründungsmitglieder war mit 20 Personen vergleichsweise überschaubar. Heute zählt der Museumsverein 140 Mitglieder – und, was Werner Rohr und Jutta Bonge besonders freut, rund die Hälfte davon arbeitet in einer der verschiedenen Gruppen aktiv mit. Als Gründe für diese positive Entwicklung nennt Rohr zum einen die sozialgeschichtliche Orientierung des Vereins, die also nicht nur Zahlen und Daten in den Fokus nimmt, sondern sich in besonderem Maße für das Leben der Textilwerker und deren Familien interessiert. Zum anderen werde im Verein die Partizipation aller Mitglieder großgeschrieben, der Vorstand nehme sich da bewusst zurück. „Ehrenamt muss Spaß machen. Die Leute sollen merken, dass sie etwas davon haben“, sagt Jutta Bonge, und fügt hinzu: „Darüber hinaus konnten wir in den vergangenen Jahren mehrere Grafschafter Firmen als Mitglieder gewinnen, die in der Textilbranche tätig sind oder deren Entstehung aus der Zeit der großen Fabriken herrührt.“ Dass das Thema Textilindustrie die Menschen in der Region noch immer bewegt, zeigt nicht zuletzt die Aktion der drei Nordhornerinnen Kerstin Borgmann, Tanja Schulte und Stephanie Schinkowski, über welche die GN erst kürzlich berichteten: Das Trio sammelt Original-Stoffe von NINO, Rawe und Povel, um daraus Taschen und Kissen zu nähen – und um die Produkte jener Zeit buchstäblich vor dem Container zu bewahren. Nach eigenen Angaben erhielten die drei Frauen sehr viele positive Rückmeldungen. Auch Jutta Bonge und Werner Rohr bestätigen das vorherrschende Interesse: „Die Menschen finden Orientierung in der Vergangenheit, getreu dem Motto: Ohne Herkunft, keine Zukunft“, sagt Rohr. So sei etwa auch das Bühnenstück „Lindenallee – Straße der SA“ der Theaterwerkstatt nicht zuletzt deshalb solch ein Sensationserfolg geworden, weil es eben hier spielt.

Vor diesem Hintergrund ist auch ein zentrales Anliegen des Vereins zu betrachten: Die Arbeit soll kein Selbstzweck sein, sondern in die Stadtgesellschaft hineinwirken. Dass dies in den zurückliegenden Jahren durchaus gelang, ist auch verschiedenen Veranstaltungen zu danken – insbesondere dem jährlichen Frühlingsmarkt. Maßgeblich organisiert wird dieser durch den Kreis der Museumsfreundinnen, einer Gruppe von nunmehr 16 Frauen, die schon seit mehr als zehn Jahren besteht. Kommendes Wochenende ist es wieder so weit und der nunmehr achte Frühlingsmarkt geht über die Bühne: Am Sonntag, 23. März, zwischen 11 und 17 Uhr sind alle Interessierten willkommen. 2000 Besucher waren es im Rekordjahr 2019, und: Viele Leute kommen nach Angaben der Organisatorinnen anschließend wieder ins Museum, um sich alles nochmal in Ruhe anzuschauen.

Darüber freut sich auch Nadine Höppner, seit 2016 Leiterin des Stadtmuseums und einzige hauptamtliche Vollzeitkraft: Sie unterstreicht den großen Wert des Ehrenamts, und zwar nicht als Ersatz für bezahltes Personal, sondern als Form der Sinnstiftung und Partizipation: „Das ist der soziale Kit, der uns zusammenhält“, bringt sie es auf den Punkt. Dieses Thema bewege Museen insgesamt zurzeit sehr.

Alles in allem sieht sich der Museumsverein gut aufgestellt – ist aber freilich froh und dankbar für jedes weitere Mitglied. Inhaltlich soll in näherer Zukunft die Niedergrafschaft in den Blick genommen werden, sagt Jutta Bonge. Die Textilgeschichte betreffe schließlich nicht nur Nordhorn, sondern die ganze Region. So gelte es nun, Beziehungen untereinander herauszufinden und Entwicklungen zu verdeutlichen: „Das eine lässt sich ohne das andere nicht denken.“ Rudi Veenemann, der Techniker aus der Museumsfabrik, ist übrigens ein lebendiges Beispiel dafür: Selbst in der Niedergrafschaft aufgewachsen, wollte er eigentlich Elektriker werden. Als sich diese Pläne zerschlugen, hieß es für ihn: „Dann möss du noa de Fabrik.“ Und so begann eine von Tausenden Textiler-Geschichten in Nordhorn – deren Bedeutung der Museumsverein auf vielfältige Weise in Ehren hält.